Aphorismen aus den Bergen
Der Doshu in Bosco Gurin (CH) August 2016

Bosco Gurin

Bosco Gurin ist ein Walserdorf im Tessin an der schweizerisch-italienischen Grenze. Seit vielen Jahren verbringe ich nun schon eine Woche an diesem Ort und übe mit meinen Mitstreitern nach den Lehren von Doshu Yoshigasaki.
Warum eine Woche im Jahr in diesem abgelegenen Bergdorf verbringen?

Diese Frage hat für mich eine andere Bedeutung als für andere, denn wenn mich vor sechs Jahren jemand gefragt hätte, ob ich nach Bosco Gurin fahren möchte, hätte ich mit „Nein“ geantwortet, da die Jahreszeit in dieser Ecke des Tessins nicht freundlich sei, der Herbst vor der Tür stehe und es immer einige schlechte, kalte und regnerische Tage gebe. Ausserdem habe ich dieses Jahr nur zwei Wochen Urlaub, also muss ich sorgfältig auswählen, was ich mache …

Ankünfte

Ich komme am Samstagnachmittag gegen 16 Uhr an und bin der Erste. Die Organisatoren, unter denen ich nur Yvette erwähne (eines Tages werde ich euch über unser erstes stürmisches Treffen schreiben), berücksichtige ich nicht. Ich gehe hoch in den Schlafsaal und wähle das letzte Bett am Ende in der Nähe des Fensters. Vor mir ist eine Tür zu einem kleinen Zimmer, in dem mein Lehrer Maurizio schläft. Ich nehme schon seit ein paar Jahren hier immer den gleichen Platz, ich bin ein Gewohnheitsmensch.
Eines der schönsten Dinge am Lehrgang in Bosco Gurin ist, dass wir alle gemeinsam im "Centro climatico" schlafen und essen, einem wunderschönen Gebäude im Zentrum des Dorfes.
Die Stunden vergehen und alle Teilnehmer treffen ein: Dieses Jahr haben wir ein französisches Trio, Paul, Gabi und Fabian. Das finnische Paar ist wieder da mit seinem Wohnmobil und seinen Hunden, während aus der Tessiner Gruppe Geraldina dabei ist, die erst seit kurzem Aikido macht. Dann sind da noch Michal aus Prag und Donato aus Turin, die auch schon die Woche vorher im Schwarzwald auf dem Lehrgang auf dem Herzogenhorn waren. Aus Turin sind auch Paolo und Tina angereist. Sven fehlt dieses Jahr und das betrübt mich.

Sonntag, erster Tag

Sonntag ist der Tag, an dem frühmorgens kein Misogi praktiziert wird, daher fangen wir um 8:30 Uhr an.
Der Tag ist wunderschön und es wird die ganze Woche so bleiben. Der Bäcker von Bosco wird mir sagen, dass es die schönste Woche des Sommers sein wird, und tatsächlich war es eine ungewöhnlich sonnige Woche.
Dieses Jahr beschließt der Doshu, Tag für Tag einige Aphorismen zu präsentieren, um die Gruppe der Schüler zum Nachdenken anzuregen. Am ersten Tag ist es:
Was bedeutet es in Japan, arm und nicht reich zu sein?
Und in Indien arm und nicht reich zu sein?
Und in Italien arm und nicht reich zu sein?
Im täglichen Training spricht der Meister auch über die Themen, die ihm am Herzen liegen. Oft sind die Seminare zu kurz für das, was er zu sagen und zu lehren hat und wenn man ihm nicht von Anfang bis Ende folgt, gibt es immer Lücken und Missverständnisse hinsichtlich dessen, was er sagt. Auch weil ja jeder von uns alles auf seine eigene Weise interpretiert und sich Vorstellungen von dem macht, was er scheinbar verstanden hat. Bevor man sich eine Meinung zu den Aussagen von Yoshigasaki Sensei bildet, muss man ihm zuhören und ihn kennenlernen. Ist es eine schwierige Sache? Ja, das ist es. Wir sind es gewohnt, unser Leben bequem zu gestalten, aber dies muss auch einen gewissen Nutzen hinsichtlich der Freizeit haben. Das heißt, es muss uns ermöglichen, sie sinnvoll zu verbringen.
Wir versuchen im Allgemeinen, Ermüdung zu vermeiden, und wozu führt das?
Das Üben von Aikido ist, wie alles, was mit Leidenschaft und Hingabe getan wird, keine leichte Aktivität, aber das sagt einem niemand am ersten Unterrichtstag.

Montag, zweiter Tag

Heute Morgen bin ich um 5:45 Uhr aufgewacht. Maurizio versucht immer, mich zu überraschen, indem er denkt, ich schlafe, aber ich bin schon wach.

Dieses Jahr sind wir im Schlafsaal auf dem Dachboden nur zu wenigen und können uns sehr gut ausruhen. Es gibt keine "professionellen Schnarcher". Außer mir und Maurizio sind da noch Manuel, ein ausgezeichneter Pizzabäcker mit großer Leidenschaft, sowie Liliana und Davide, die die Toskana repräsentieren.
Wir alle vermissen Gigi und ich möchte auch sagen, dass wir ihn so bald wie möglich wiedersehen möchten.

Montag

Der Meister legt das Augenmerk auf die Misogi-Technik und das wird die ganze Woche so bleiben.
Nach dem Misogi frühstücken wir. Die Landschaft, die man von den Tischen am Fenster aus sehen kann, ist sehr schön. Das Amphitheater aus den umgebenden Bergen ist auch nach vielen Jahren noch immer eindrucksvoll.

An diesem zweiten Tag fragt der Meister:
Aber wer praktiziert denn Ki-Aikido?
Der Meister hat drei Antworten:
Diejenigen, die mit dem Üben von Ki-Aikido begonnen haben und es weiterhin üben.
Diejenigen, die mit dem Aikido-Training beginnen, aber nicht kämpfen möchten und mit daher dem Ki-Aikido-Training beginnen.
Diejenigen, die nicht kämpfen wollen und nach etwas Höherem streben, vielleicht leben wollen.

Nach diesen Antworten, die meiner Meinung nach nicht erschöpfend sind und sich im Laufe der Zeit ändern werden, habe ich jedoch eine Frage, die mir wichtig erscheint: Was sollte ein Ki-Aikido-Praktizierender tun, wenn er zum Kämpfen gezwungen wird? Dies ist von grundlegender Bedeutung, um zu kommunizieren, was wir tun. Denn das definiert, was Ki-Aikido ist. Es ist eine Frage, die uns jeder stellt, der zu uns ins Dojo kommt.

Dienstag, dritter Tag

Wir beginnen mit einer frühmorgendlichen Vertiefung des Reinigungsrituals.
Mittlerweile beginnen die Neulinge in Bosco zu verstehen, dass das Training auf 1.500 m über dem Meeresspiegel und das frühe Aufstehen am Morgen eine gewisse Müdigkeit mit sich bringen.
Wie dem auch sei, der Nachmittag ist frei. Für fast alle. Der Unterzeichnende befindet sich allerdings noch in den Prüfungsvorbereitungen.

Und ihr glaubt, Paul (aus Marseille) wurde vergessen? Nein, er sucht mich heute, gleich zu Beginn des Unterrichts, und ich übe den ganzen Morgen mit ihm.
Lasst mich von ihm erzählen, was er in den Monaten seines Ruhestands so macht. Ihr werdet staunen, was der Mann mit dem Schnurrbart alles auf die Beine stellt.
Auch Fabien und Gabi konnte er überzeugen, dieses Jahr hierher zu kommen.

Mittwoch, vierter Tag

Dies ist der Tag zum Ausruhen. Die halbe Woche ist geschafft und der Ausflug ist fällig. Ich lasse mich von Michele zu leicht überreden, für den Aufstieg nach Robiei zum Basodino-Gletscher nicht die Seilbahn zu nehmen, sondern eine richtige Wanderung (900 Höhenmeter) zu unternehmen. Auch Liliana folgt uns, zumindest bergauf, während sie bergab wohlweislich lieber die Seilbahn nimmt.

Nachdem ich ein Jahr lang nicht ernsthaft in die Berge gegangen bin, ist die Anstrengung des ersten Aufstiegs unvergesslich. Aber der Abstieg ist noch schwieriger.
Da ich näher an den fünfzig bin als Michele an zwanzig (er ist siebzehn!), ist mir klar, dass ich älter werde. Außerdem sagt mir der Meister im Unterricht immer lachend, dass ich im Vergleich zu Michele alt bin.

Das heutige Abendessen wird von der Organisationsgruppe selbst zubereitet. Hinzu kommt in diesem Jahr die Hilfe von Tina, die auch eine sehr gute Köchin ist, wie wir vor Ort feststellen konnten.

Donnerstag, fünfter Tag

Ich denke, einer der besten Aphorismen des Meisters ist:
Wie schützt man sich vor einer Frau, die einen umbringen will?

Ich habe auch vergessen, euch zu sagen, dass ich jeden Nachmittag trainiere, um mich auf meine Prüfung vorzubereiten, und nicht nur das. In der Aikido-Praxis ist die Prüfung meiner Meinung nach nur ein kleiner Schritt.
Mein Ziel ist ein anderes, aber ich hoffe, es bis zum Alter von fünfzig Jahren zu erreichen, was, wie ich bereits sagte, nun nicht mehr lange auf sich warten lässt.

Freitag, sechster Tag

Maurizio muss nachmittags wegen beruflicher Verpflichtungen abreisen.

Das heutige Zitat lautet: Wie schützt man sich vor einem Kampfsportexperten?
Diese Frage hat man den Meister wahrscheinlich schon oft gestellt gehört, und deshalb schreibe ich die Lösung nicht auf, weil es keinen Spaß macht. Ich kann euch einen Tipp geben: Fragen stellen darf nur, wer mindestens zehn Jahre praktiziert hat.

Samstag letzter Tag

Wir sind am Ende angekommen, beim Abschied. Beim morgendlichen Training dreht sich alles um die erste Kata von Jo und Bokken, während sich der Doshu gestern auf die zweite Kata von Jo und Bokken konzentriert hatte.
Fehlt vielleicht der Spruch des Tages? Offensichtlich nicht:
Wie kann man sich vor der Atombombe schützen?
Ich halte es für sehr wichtig, darüber nachzudenken, was eine solche Frage bedeutet, die von einem über sechzigjährigen Japaner gestellt wird, dessen Leben unweigerlich von den Ereignissen am Ende des Zweiten Weltkriegs beeinflusst wurde, die ein ganzes Volk geprägt haben.

Nach dem Mittagessen am Samstag und dem rituellen Abschied verlasse ich die Halle, habe aber einen Teil meines Gepäcks vergessen und muss zurückkommen, um es zu holen. Es war eine anstrengende Woche.
Warum tue ich mir so etwas an?
Meine Antwort ist, dass jedes Jahr neue Mitstreiter zur Gruppe stoßen und es ist die Neugier, wer da sein wird und was passieren wird, die mich immer wieder in dieses abgelegene Tessiner Dorf zieht.
Und was mache ich nächstes Jahr? Kommt auch und seht wie es ist!

Andrea Masseroni, 20.10.2016
Zuerst veröffentlicht auf Ki no nagare
Neu illustriert und übersetzt: BB

Gruppenfoto

Bosco Gurin 2016

 

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