Das Japan der "Eisernen Lady"

Die politische Situation in Japan 11/2025

Géopolitis

Géopolitis ist eine Sendereihe des Schweizer französischen Fernsehens RTS und von TV5 Monde.
Die Sendung vom 16. November 2025 behandelte die aktuelle innen- und aussenpolitische Lage Japans aus der Sicht der Schweizer Journalisten und auch mit interessanten Details.
Das Video (Dauer 26 Minuten) zeigt die Sendung im französischen Originalton. Ich habe französische Untertitel und ein paar Zusatzinformation eingefügt. Für alle, die zu wenig Französisch verstehen, oder wer den Inhalt schnell überfliegen möchte, gibt es den Text auf Deutsch weiter unten.
Für Aikidoka dürfte der verfassungsmässige Pazifismus Japans von Interesse sein. Im Rahmen der weltweiten Kriegstreiberei geht es nun auch diesem an den Kragen.

Einleitung

Moderator: Laurent Huguenin-Elie (im Folgenden abgekürzt als LHE)

Hallo und herzlich willkommen bei Geopolitis.
Im Programm: Die Ernennung einer neuen Premierministerin in Japan, die in einem komplexen innen- und geopolitischen Kontext stattfindet. Sanae Takaichi hat die japanische Regierung übernommen. Sie repräsentiert den Hardliner-Flügel ihrer Partei, der LDP. Sie sieht Margaret Thatcher als ihr politisches Vorbild und wird in dieser Ausgabe porträtiert.
Kaum im Amt, hat Sanae Takaichi bereits eine Reihe diplomatischer Treffen absolviert, beginnend mit einem Besuch von Donald Trump in Japan.

Fortsetzung Einleitung

00:34
Welche Probleme stehen in der Asien-Pazifik-Region an ?
Wir werden sehen, dass Japan, ein laut Verfassung pazifistischer Staat, sein Militärbudget stetig erhöht. Angesichts der Spannungen in der Region möchte das Land seine Selbstverteidigungskräfte stärken, hat aber Schwierigkeiten, Personal zu rekrutieren.
Erstmals steht eine Frau an der Spitze der japanischen Regierung. Dies ist ein Novum in einer politischen Welt, die weitgehend von Männern dominiert wird. Doch die Frauenrechtsbewegungen im Archipel bleiben vorsichtig, wenn nicht gar misstrauisch. Sanae Takaichis Positionen zu Gleichstellung und Geschlechterfragen sind alles andere als vielversprechend. Die neue Premierministerin gilt als traditionalistisch, konservativ und nationalistisch.
Ihre Ernennung ist im aktuellen Kontext sicherlich kein Zufall. Ihre Partei, die LDP (Liberaldemokratische Partei), die seit 1955 fast ununterbrochen an der Macht ist, durchlebt eine turbulente Phase. Ihre Hegemonie bröckelt, und im Herbst dieses Jahres entschied sie sich mit der Ernennung von Frau Takaichi für einen harten Kurs. Doch in der Folge verlor sie die Unterstützung der zentristischen Partei Kōmeitō, mit der sie eine Koalitionsregierung gebildet hatte, zugunsten der populistischen Partei Ishin.
Welche Rolle nimmt Japan also in der aktuellen Situation ein ?
Und wie positioniert sich Japan auf der internationalen Bühne ?
Wir begrüssen Constance Sereni, Historikerin des zeitgenössischen Japan. Schauen wir uns zuerst ein erläuterndes Porträt der neuen Premierministerin an. Der Beitrag ist von Mélanie Ohayon.

Die Konservative

02:05
Sanae Takaichi, die erste Frau an der Spitze Japans. Vor dem Parlament geniesst Sanae Takaichi diesen historischen Moment. Im ersten Wahlgang gewählt, wird sie die erste Frau überhaupt, die eine japanische Regierung leitet.
Ihre Ernennung wurde wenige Stunden später von Kaiser Naruhito offiziell bestätigt. Als Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei vertritt sie einen harten Kurs. Die Nationalistin und Konservative macht aus ihrer Bewunderung für Margaret Thatcher kein Geheimnis. Wie Thatcher priorisiert auch sie den Kampf gegen die Inflation in einem Land, in dem sich der Reispreis innerhalb eines Jahres fast verdoppelt hat. Ihr Ziel: ein starkes und mächtiges Japan, das sich im internationalen Vergleich behauptet.

Neues Gesicht in Japan

02:56
Takaichi: "Japan steht vor einer schweren Krise, sowohl innen- als auch aussenpolitisch. Wir haben keine Zeit, tatenlos zuzusehen. Wir werden entschlossen und ohne Furcht vor Veränderungen handeln und vom ersten Tag an mit voller Kraft voranschreiten."
Hinter dieser entschlossenen Fassade bricht ihr ungewöhnliches Profil innerhalb des japanischen politischen Establishments hervor. Geboren in eine bescheidene Familie in Nara, begeisterte sie sich für Motorräder und spielte an der Universität Schlagzeug in einer Heavy-Metal-Band. Nach einer kurzen Zeit als Fernsehkommentatorin wurde sie 1993 erstmals ins Parlament gewählt. Sie bekleidete verschiedene Ämter in den Regierungen von Shinzo Abe, ihrem Mentor, der 2022 ermordet wurde.
Wie er wird auch sie der revisionistischen Bewegung zugerechnet. Sie besucht regelmässig den umstrittenen Yasukuni-Schrein, der insbesondere an die im Zweiten Weltkrieg wegen Kriegsverbrechen verurteilten Japaner erinnert.

Japanese First

Sanae Takaichis Partei, die LDP, regiert Japan seit fast 70 Jahren ununterbrochen. Doch ein kürzlich aufgedeckter Finanzskandal machte sie zunehmend unbeliebt. Mehrere Parteimitglieder stehen im Verdacht, umgerechnet mehrere Millionen Euro veruntreut zu haben.
Bei den letzten Parlamentswahlen verlor die LDP ihre absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Sie muss sich daher mit anderen Parteien zusammenraufen, darunter auch mit sehr extremistischen. Eine von ihnen hat gerade 14 Sitze im Senat gewonnen.
Sohei Kamiya, Vorsitzender von Sanseito: "Sanseito gewinnt an Popularität, weil wir das Offensichtliche unmissverständlich aussprechen. Lasst uns die Politik machen, die die Menschen erwarten. Das was man ‚Japan zuerst‘ nennt. Ich sage, die Prioritäten sind falsch. Warum sollten Ausländer Vorrang haben, wenn die Japaner ums Überleben kämpfen und in Angst leben ?"
Mit seiner impfkritischen und antisemitischen Rhetorik profitiert Sanseito vor allem von der wachsenden Angst der japanischen Bevölkerung vor Einwanderung und spricht insbesondere einen Teil der urbanen Jugend an.
Junge Japanerin: "Ausländer, die kürzlich nach Japan gekommen sind, haben keinen Respekt vor dem Land. Sie sind als billige Arbeitskräfte gekommen. Ich glaube nicht, dass sie Japan etwas Gutes bringen."
Japan leidet in vielen Branchen unter einem chronischen Arbeitskräftemangel, der unter anderem auf die stetig sinkende Geburtenrate zurückzuführen ist.
Im vergangenen Jahr erreichte die Zahl der Ausländer in Japan mit über 3,7 Millionen einen Rekordwert. Die überwiegende Mehrheit von ihnen stammt aus China. Ausländer machen jedoch nur 3 % der Gesamtbevölkerung des Landes aus.

Mehrheit in beiden Kammern

05:53
LHE: Constance Sereni (CS), bonjour. CS: Bonjour.
LHE: Sie sind Historikerin mit Schwerpunkt auf dem zeitgenössischen Japan an der Universität Genf. Die neue Premierministerin, Sanae Takaichi, ist, wie wir hier gesehen haben, sehr energiegeladen und hat eine starke Persönlichkeit. Ist sie beliebt ?
CS: Es ist recht schwierig, die Beliebtheit eines Politikers oder einer Politikerin in Japan einzuschätzen, da die meisten Menschen keine sehr gefestigten politischen Meinungen haben. Politik begeistert die Menschen nicht sonderlich. Sie betrachten sie eher als etwas Fernes und Unpersönliches. Dennoch hat sie beachtliche Popularität erlangt, insbesondere weil sie eine Frau ist.

Japanische Politikerdynastien

06:32
CS: Und für manche junge Japaner wäre es trotz allem ein ermutigendes Zeichen des Fortschritts, dass eine Frau an der Macht ist.
LHE: Und sie musste sich auch ihren Platz in der Welt der männlichen Politiker erst erkämpfen. Sie selbst stammt nicht aus einer politischen Dynastie. Und das verändert alles.
CS: Genau. Eine Besonderheit der japanischen Politik, insbesondere der LDP, der Liberaldemokratischen Partei, ist die grosse Anzahl politischer Dynastien. Das haben wir dort gesehen; der andere Kandidat war der Sohn von Junichiro Koizumi (geb. 1942). Abe (geb. 1954) beispielsweise war selbst der Enkel von Kishi (geb. 1896), der ebenfalls Premierminister war. Politische Dynastien sind sehr wichtig. Man muss tief in seiner Region verwurzelt sein, um gewählt zu werden. Denn japanische Politiker sind vor allem Lokalpolitiker. Und Familiendynastien tragen dazu bei, diese lokale Verbindung zu bewahren. Aber bei Takaichi Sanae ist es ganz anders. Tatsächlich stammt sie aus einer, sagen wir mal, ganz normalen Familie, einer Familie der Mittelschicht. Und sie hat keinerlei Unterstützung von dieser Art genossen. Sie hat sich alles selbst erarbeitet. Sie ist natürlich die erste Frau, die diese politische Position erreicht hat.
Allerdings hat sie selbst mehrfach gezeigt, dass sie gegen den Grundsatz der Geschlechtergleichstellung und das Recht von Frauen, ihren Mädchennamen zu verwenden, ist. Sie sprach von einer Regierung nach skandinavischem Vorbild mit vielen Frauen. In Wirklichkeit gibt es in ihrer Regierung nur zwei Frauen. Wir werden sehen, ob sich diese Situation in Zukunft ändert.
LHE: Japan hat eine schwere politische Krise mit Skandalen erlebt. Sie erwähnten die Partei, die seit 1955 an der Macht ist. Also fast all die Jahre, mit einer kurzen Ausnahme. Für die LDP ist die Lage heute nicht einfach. Ihre Macht schwindet, und nun hat sie sich für einen harten Kurs entschieden, um sich durch Frau Takaichi vertreten zu lassen. War das nicht eher ein Zufall ?
CS: Nein, das ist kein Zufall. Es ist in erster Linie eine Frage des Kompromisses. Das Problem ist, dass die LDP derzeit ohnehin in beiden Kammern keine Mehrheit hat. Dies ist zum Teil auf die verschiedenen Finanzskandale zurückzuführen, die sie in den letzten Jahren erlebt hat. Daher war es notwendig, Koalitionen mit verschiedenen Parteien zu bilden. Shinjirō Koizumi (*1981) scheint es nicht gelungen zu sein, Koalitionen zu bilden, die ausreichten, um Vorsitzender der LDP zu werden.
LHE: Koizumi ist ihr Rivale.
CS: Genau. Und Takaichi, sie hat das äusserst schwierige Kunststück vollbracht, eine Partei zu finden, die sie bei der Erlangung einer Mehrheit in beiden Kammern unterstützt.
LHE: Offensichtlich erwarten sie mehrere Herausforderungen, allen voran innenpolitische, angefangen bei Wirtschaftsproblemen. Die Wirtschaftsprobleme.
CS: Ja. Der Kurs, den sie bisher verfolgt hat, ist also tatsächlich der ihres Mentors. Was damals in Japan als ABENOMICS bezeichnet wurde, also Abes Politik. Die Wirtschaftspolitik von Shinzo Abe, der 2022 ermordet wurde. Diese Politik konzentrierte sich vor allem auf die Inflationsbekämpfung und grossangelegte öffentliche Bauprojekte zur Ankurbelung der Wirtschaft.
Sie hat mehrfach über die Inflation gesprochen. Und die Inflation in Japan ist derzeit dramatisch. Der Yen fällt, die Inflation steigt. Das bedeutet, dass die Kaufkraft japanischer Haushalte extrem niedrig ist. Und genau das weckt ausnahmsweise das Interesse der Menschen an Politik.
LHE: Wir haben es auch bei einem anderen kontroversen Thema gesehen: der Präsenz von Ausländern im Land. Bei einer Bevölkerung von 124 Millionen leben nur 4 Millionen Ausländer im Land. Aus westlicher Sicht erscheint das eine geringe Zahl, nicht wahr?
CS: Genau. Tatsächlich bleibt der Anteil sehr gering. Die überwiegende Mehrheit der Ausländer in Japan hat dort Arbeit. Sie besitzen Kurzzeitvisa, da eine Einwanderung nach Japan nicht möglich ist. Es ist sogar äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die japanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, wenn man nicht in Japan geboren wurde. Diese Menschen haben also Verträge und bleiben einige Jahre, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren. Es handelt sich um Arbeitskräfte, die in Japan als systemrelevant gelten und Arbeiten verrichten, die Japaner selbst nicht mehr ausüben möchten. Schwierige, anstrengende und schwere Arbeit, insbesondere in der Pflege allgemein und der Altenpflege. Japan hat eine sehr alte Bevölkerung, eine der ältesten der Welt. Die Ausländer, die Angst auslösen, stellen in Wirklichkeit nur einen sehr kleinen Teil dieser Ausländer dar. Es handelt sich um die wenigen Flüchtlinge in Japan, die in den letzten Jahren in den sozialen Medien angegriffen wurden. Es handelt sich dabei um geringfügige Vergehen, die von diesen sehr armen Bevölkerungsgruppen begangen wurden. Es gibt natürlich Straftaten, die begangen wurden und in den Medien, insbesondere in sozialen Netzwerken, reisserisch dargestellt werden. Dies schürt eine Art Fremdenangst, die sich immer weiter ausbreitet.
LHE: Hinzu kommt die Präsenz von Ausländern durch die stetig steigende Zahl von Touristen.
CS: Genau. Die Touristen erinnern daran, dass Japan sich derzeit nicht in einer starken Position befindet. Und dass der Besucheransturm auf Japan derzeit auf den schwachen Yen zurückzuführen ist. Japan ist somit ein preiswertes Reiseziel.
So hat sich Japan nie selbst gesehen. Japan verhält sich so gegenüber Ländern, die es als weniger wichtig betrachtet, wie beispielsweise die Länder Südostasiens. Das sind preiswerte Länder, in die die Menschen reisen, um sich zu vergnügen. Die Vorstellung, dass Japan dazugehört, ist für einen Teil der japanischen Bevölkerung sehr verletzend.
LHE: Wir haben also über innenpolitische Herausforderungen gesprochen. Doch kaum im Amt, war Sanae Takaichi bereits mit internationalen Treffen auf Gipfeltreffen in Asien beschäftigt. Und auch im eigenen Land, mit dem Besuch von Donald Trump. Die neue Premierministerin ist bestrebt, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu stärken.

Die Verbindungen zu Washington

von Elsa Anghinolfi
12:41
Sanae Takaichi möchte ihre Beziehungen zu Washington stärken. Der Versuch scheint für sie ein Erfolg gewesen zu sein.
Auf dem US-Marinestützpunkt in Yokosuka, südlich von Tokio, lobte Donald Trump seine neue diplomatische Partnerin.
Trump: "Diese Frau ist eine Gewinnerin. Wissen Sie, wir sind sehr enge Freunde geworden."
Sanae Takaichi scheute keine Mühen, sich beim amerikanischen Präsidenten einzuschmeicheln, den sie Ende Oktober 2025 zum ersten Mal in Japan traf. Ein vergoldeter Golfball als Geschenk an den Präsidenten und amerikanisches Rindfleisch auf der Speisekarte des Abendessens.

Japan - USA

13:18
Die Premierministerin kündigte Berichten zufolge auch ihre Absicht an, ihn für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.
Takaichi: "In so kurzer Zeit ist die Welt friedlicher geworden. Ich schätze Ihr unerschütterliches Engagement für Frieden und Stabilität in der Welt sehr. Ich bin tief beeindruckt."
Nach ihrem Amtsantritt erklärte Sanae Takaichi ihre Absicht, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern weiter zu vertiefen.
Takaichi: "Das japanisch-amerikanische Bündnis ist der Eckpfeiler unserer Aussen- und Sicherheitspolitik."
Japan und die Vereinigten Staaten sind durch einen 1960 unterzeichneten Verteidigungspakt verbunden. Japan beherbergt das grösste US-amerikanische Auslandskontingent mit rund 60.000 Soldaten, die auf mehreren Stützpunkten stationiert sind. Die meisten befinden sich auf der Insel Okinawa, nur 600 km von Taiwan entfernt, das Peking als Teil seines Territoriums betrachtet.
Laut einer Erklärung des japanischen Aussenministeriums äusserte die Premierministerin ihre Befürchtungen für die Region auf der Konferenz der ASEAN-Staaten (Verband Südostasiatischer Nationen): "Im Ostchinesischen Meer dauern die Aktivitäten an, die Japans Souveränität verletzen, und die provokativen Militäraktionen nehmen zu. Frieden und Stabilität in der Taiwanstrasse sind von grosser Bedeutung und haben direkte Auswirkungen auf die regionale Sicherheit."
Nach dem Besuch von Donald Trump reiste Sanae Takaichi nach Südkorea, einem weiteren wichtigen Verbündeten der USA in der Region, um an einem weiteren regionalen Gipfeltreffen teilzunehmen. Dort traf sie mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping zusammen. Beide Länder bekräftigten ihren Willen zur Aufrechterhaltung stabiler und konstruktiver Beziehungen.

Streicheleinheiten für Donald Trump

LHE: Constance Sereni, Sanae Takaichi streichelte Donald Trump in "Strichrichtung" (d.h. nicht gegen den Strich, Anm. d. ÜS.). Sanae Takaichi verfügt über keine nennenswerte diplomatische Erfahrung, ging aber bemerkenswert geschickt mit Donald Trump um.
CS: Genau. Sie wurde zunächst für ihr Geschick im Umgang mit Donald Trump gelobt, der, wie Sie wissen, auf internationaler Bühne ein recht schwieriger Charakter ist. Und sie entschied sich, ihm zu schmeicheln, was viele Kommentatoren als sehr geschickt empfanden. Allerdings wurde sie dafür auch heftig kritisiert.

Territorriale Spannungen

15:47
CS: Weil manche der Meinung waren, sie habe den Amerikanern letztendlich zu viel nachgegeben, sei zu versöhnlich gewesen. Es bleibt also abzuwarten, ob sie ihren Kurs ändert. Insbesondere im Hinblick auf die vielbesprochenen 500 Milliarden Dollar, die Japan in den USA investieren soll und die derzeit noch sehr vage bleiben.
LHE: Japan weiss um die Bedeutung dieses Bündnisses mit den USA. Gleichzeitig strebt es aber auch eine Diversifizierung seiner Kontakte an. Ist für den Archipel auch wichtig, die Karte anderer Mächte auszuspielen ?
CS: Genau. Japan ist in verschiedenen asiatischen internationalen Organisationen auf unterschiedlichen Ebenen vertreten. Nehmen wir zum Beispiel den Quad, der mit Australien, Korea, Japan und den USA recht klein ist. Die ASEAN hingegen, die wir gerade erwähnt haben, ist sehr breit gefächert. Und Japan hat sich stets bemüht, sich als Führungsmacht in Asien im Zentrum dieser Organisationen zu positionieren. Das lässt Japan natürlich nicht immer freundlich gegenüber anderen Ländern erscheinen.
LHE: Auch die Taiwan-Frage ist ein wichtiges Anliegen. Taiwan liegt – wenn wir den Archipel als Ganzes betrachten kennt man die strategisch wichtige Region Okinawa. Aber es gibt zum Beispiel auch eine Insel namens Yonaguni, die nur etwa hundert Kilometer entfernt liegt.
CS: Genau. Tatsächlich besteht der Okinawa-Archipel aus einer Vielzahl von Inseln. Einige davon liegen sehr nahe an Taiwan. Manche befinden sich sogar in Gebieten, die von der Volksrepublik China beansprucht werden. Yonaguni liegt sehr nahe an Taiwan, und Japan hat sich entschieden, dort vorerst Abwehrraketen zu stationieren. Aber in jedem Fall, um seine militärische Präsenz dort zu verstärken.
Dies beunruhigt diejenigen, die die geopolitischen Spannungen in der Region beobachten, sehr. Denn natürlich könnten selbst Abwehrraketen von der Volksrepublik China als Provokation aufgefasst werden.
LHE: Der Krieg in der Ukraine ist ein interessantes Thema, da er Japan wirklich schockiert hat. Und das aus gutem Grund, denn er betrifft Russland, sozusagen einen Erbfeind, und Nordkorea.
CS: Ja, absolut. Es ist vor allem diese Art von Koalition, die sich zwischen Russland, China und Nordkorea gebildet hat. Was letztlich aus geopolitischer Sicht eher unwahrscheinlich ist. Aus japanischer Perspektive könnte es jedoch als antijapanische Koalition wahrgenommen werden. Denn all diese Länder haben gemeinsam, dass sie zahlreiche Ansprüche gegen Japan hegen. Sie haben territoriale Streitigkeiten mit Japan. Natürlich bereitet dies Japan grosse Sorgen, das seit Jahrzehnten mit den wachsenden militärischen Fähigkeiten Nordkoreas lebt.
LHE: Auch die Beziehungen zu Russland und insbesondere zu Nordkorea und China – diese offensichtlich zentrale historische Dimension – ist für Japan komplex.
CS: Genau. Die historischen Probleme, die Süd- und Nordkorea sowie China, Russland und Japan trennen, sind natürlich echte historische Probleme. Und sie verdienen eine gründlichere Auseinandersetzung. Doch in Wirklichkeit sehen wir vor allem, dass diese historischen Probleme politisch instrumentalisiert werden, um Streitpunkte zu schaffen, die die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ermöglichen.
Das heisst, Japan werden Kriegsverbrechen, das Massaker von Nanking oder der Skandal um die „Trostfrauen“ vorgeworfen. Das ist natürlich legitim, verstärkt aber auch die antijapanische Stimmung in der Bevölkerung. Und das kann, je nach Lage, für die chinesische oder koreanische Regierung sehr nützlich sein.
LHE: Angesichts verschiedener Bedrohungen beschleunigt Japan seine Remilitarisierung, und die Selbstverteidigungskräfte haben Schwierigkeiten, neue Rekruten zu gewinnen.

Wiederbewaffnung

von Natalie Bougeard
20:10
Japan beschleunigt seine Aufrüstung, hat aber Schwierigkeiten, Soldaten zu rekrutieren. Gleich nach seinem Schulabschluss hat sich der 19-jährige Takuma Hiyane gerade zum Militärdienst gemeldet.
Hiyane: „Das Training ist körperlich sehr anstrengend und hart, aber ich bin es gewohnt, weil ich in der Schule Sport gemacht habe. Der Umgang mit Schusswaffen und ähnliches, woran ich nicht gewöhnt bin, ist viel anstrengender und stressiger. Diese Erfahrung hinterlässt Spuren.“

Selbstverteidigungsstreitkräfte

20:35
Seit einigen Jahren haben die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte Probleme bei der Rekrutierung neuer Mitglieder. 2023 schaffte es das Land nur knapp die Hälfte der angestrebten 20.000 Rekruten einzustellen. Die sinkende Geburtenrate erschwert die Rekrutierung, insbesondere da die gesuchten Profile vielfältiger geworden sind.
Offizier Toshiyuki Asou: „Früher brauchten wir körperlich starke Truppen mit ausgeprägten Kampffähigkeiten. Doch die aktuelle Lage der nationalen Verteidigung erfordert ein breiter gefächertes Personal hinsichtlich Fähigkeiten und Wissen.“
Um mehr Bewerber zu gewinnen, wurde die Obergrenze für das Eintrittsalter von 26 auf 32 Jahre angehoben. Auch die Gehälter wurden erhöht. Die Behörden hoffen zudem, dass die fortschreitende Feminisierung des Militärs beschleunigt wird.
Asou: „Wir suchen derzeit Personal mit einem breiten Spektrum an Fähigkeiten. Dies liegt daran, dass sich die nationale Sicherheitslandschaft diversifiziert und Cybersicherheit, Weltraumverteidigung, elektromagnetische Felder und natürlich Nachrichtendienstarbeit umfasst.“
Angesichts zunehmender regionaler Bedrohungen konzentriert sich Japan auf Drohnen, Raketenabwehrsysteme und technologische Innovationen. Der Archipel verstärkt seine Verteidigung auf ein Niveau, das seit der Nachkriegszeit nicht mehr erreicht wurde.
Takaichi: "Japan muss die grundlegende Stärkung seiner Verteidigungsfähigkeit proaktiv vorantreiben. Deshalb werde ich Massnahmen ergreifen, um das Ziel der jährlichen Militärausgaben von 2 % des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen."
2 % des BIP bis März 2026, zwei Jahre früher als von ihrem Vorgänger vorgegeben. Die neue Premierministerin plant, Japans pazifistische Verfassung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht, zu überarbeiten.

Die Wiederbewaffnung ist nicht populär

22:32
LHE: Constance Sereni, wir haben die Schwierigkeiten der Selbstverteidigungskräfte bei der Rekrutierung aus einer Bevölkerung erlebt, die nach den Traumata des Zweiten Weltkriegs zutiefst pazifistisch eingestellt ist. Wie erlebt die Bevölkerung diese Wiederbewaffnung, dieses erneute Engagement ?
CS: Es stimmt, dass die Bevölkerung seit Kriegsende historisch gesehen stets sehr pazifistisch war. Dies ist einer der Wege, dieses Trauma zu überwinden. Und vor allem gibt es keine Aufarbeitung der Schuldgefühle, die eine Heilung der Wunden der Vergangenheit ermöglichen würde.

Pazifismus

23:10
CS: Eine Möglichkeit, auf diese Traumata zu reagieren, war der Pazifismus. Daher wird Artikel 9, dieser pazifistische Artikel der Verfassung, letztlich als Quelle des Stolzes betrachtet. Nicht als eine von den Amerikanern aufgezwungene Klausel, sondern als ein genuin japanisches Merkmal. Japan gilt als Land des Friedens.
Und in gewisser Weise mag es das auch sein, da es das einzige Land ist, das von Atombomben getroffen wurde. Das einzige Land, das wirklich weiss, was es heisst, von Atombomben bombardiert zu werden. Und daher der Vorkämpfer des Friedens ist. Die Menschen hängen sehr an diesem Bild, was bedeutet, dass die Idee einer japanischen Wiederbewaffnung insgesamt nicht sehr populär ist.
LHE: Eine offensivere Armee wäre daher absolut verfassungswidrig.
CS: Absolut verfassungswidrig, denn Artikel 9 besagt, dass Japan nicht das Recht hat, Streitkräfte zu unterhalten, die zum Angriff fähig sind. Tatsächlich hat es kein Recht Krieg zu führen. Dieser Artikel wurde in den 1950er Jahren leicht aufgeweicht, um Japan die Aufstellung einer sogenannten Selbstverteidigungsstreitmacht zu ermöglichen. Im Japanischen wird sie nicht als Armee, sondern als Selbstverteidigungsstreitmacht (自衛隊, Jieitai) bezeichnet.
LHE: Und diese Unterscheidung ist in der öffentlichen Wahrnehmung sehr wichtig. Und deshalb gibt es eine "proaktive Verteidigung". Ich glaube, das ist der Begriff, der von einer ganzen Denkrichtung, darunter auch Sanae Takaichi, verwendet und vertreten wird.
CS: Genau. Eine proaktive Verteidigung, eine kollektive Verteidigung, wie der japanische Begriff lautet (集団防衛 しゅうだん・ぼうえい shūdan·bōei). Das heisst, man würde den Verbündeten im Namen der Selbstverteidigung zu Hilfe kommen. Aktuell hat Japan im Falle eines Angriffs auf die Vereinigten Staaten kein Recht, ihnen zu helfen, da es sich nicht um einen Fall von Selbstverteidigung handelt. Die Idee wäre aber wohl eher, Artikel 9 zu erweitern als ihn komplett zu verändern. Bisher hat sich dies als sehr schwierig erwiesen.
LHE: Und das Militärbudget steigt stetig. Auch unter dem Druck der Vereinigten Staaten.
CS: Genau. Die japanische Armee, die Selbstverteidigungsstreitmacht, ist tatsächlich eine der teuersten Armeen der Welt. Und sie ist einer der wichtigsten Abnehmer der Vereinigten Staaten.
Daher haben die Vereinigten Staaten natürlich ein grosses Interesse daran, Japan zu weiteren Ausgaben zu ermutigen, insbesondere für die japanischen Streitkräfte.